Der Mist des Lebens

 
VIVAS bei Trauer: der Mist des Lebens
 
 

Zwischen Weihnachten und Neujahr habe ich Mist gebaut. Ich habe die Festplatte meines Laptops gelöscht, ohne ein intaktes Backup zu haben. Ich habe ohne mein Hirn eingeschaltet zu haben mit einem Mausklick meine Daten in den Orkus gespült. Ehrlicherweise waren es zwei Mausklicks. „Daten wirklich unwiderruflich löschen?“ hatte vorher der Rechner noch besorgt gefragt. Auch diese Aufforderung, noch einmal nachzudenken, konnte mich nicht bremsen. Ich war ungeduldig und wollte das endlich hinter mich bringen. Zwei Stunden später war der Jammer groß, als klar wurde, dass ich nicht in der Lage war, meine Daten wieder herzustellen. Ich wollte es nicht wahrhaben. Immer wieder gab ich die gleichen Tastaturbefehle ein in der Hoffnung, es könnte doch noch klappen mit dem Aufspielen meines Backups. Es war aussichtslos und ich beschimpfte mich als Idioten. Ich regte mich wirklich auf. 

Dabei war niemand gestorben! Es war nicht mal jemand verletzt. Zudem hatte ich einen großen Teil der Daten in der Cloud und außer der email-Korrespondenz von zwei Jahren ließe sich mit etwas Aufwand das meiste wieder herstellen… Trotzdem war ich „durch den Wind“ und unglücklich. Den ganzen Tag hatte ich sinnlos vor dem Rechner zugebracht und am Ende „alles geschrottet“. Ich war ehrlich gesagt auch peinlich berührt davon, dass ich als Psychotherapeut nicht ein bisschen cooler oder stabiler mit meinem Scheitern umgehen konnte. Kurz und gut: ich war zerknirscht und ich konnte mich davon auch nicht einfach lösen. Meine Übellaunigkeit klebte zäh an mir. 

 

Auch Kleinigkeiten können uns zermürben

Es war eine typische Erfahrung mit dem „Mist des Lebens“, die ich gerne umschreibe mit „leben im Gravitationsfeld“. Egal wie schlau du bist, was du alles kannst und besitzt: das Gravitationsfeld wirkt auf dich und es gibt kleine blöde Situationen, die dich ganz unangemessen in Frustration bringen können. Das platte Fahrrad, die zu hohe Nebenkostenabrechnung, der verlorene Geldbeutel, der betrügerische Anlageberater, die laute Musik des Nachbarn, der falschparkende Verkehrsrowdie, die defekte Waschmaschine, die gestiegenen Benzinpreise, die gelöschte Festplatte… Die Liste ist lang, nicht für jede Person steht das gleiche drauf, aber die meisten von uns haben neuralgische Punkte, wo sie Mist-Dingen auf den Leim gehen, die tun so, als seinen sie wichtig. Dabei haben sie in Wirklichkeit keine echte Relevanz. Wenn wir es zulassen, ist ihre Dauer üblicherweise auch begrenzt und nach kurzer Zeit verfliegt die schlechte Wirkung wie ein unangenehmer Geruch, der vom Wind fortgetragen wird. Die Erfahrung wird zu einer Anekdote des Lebens. So gibt es in unser aller Leben viele belanglose Kleinigkeiten, die uns erst quälen und dann nach Tagen, Wochen oder Monaten zu Anekdoten transformieren.

 

Menschen nach schweren Verlusten sind nicht immun dagegen

Dies geschieht auch Menschen, die im Leben nicht nur kleinen Mist erlebt haben, sondern die einen atemraubenden gewaltigen Verlust erlitten haben. Die einen geliebten Menschen schmerzlich verloren haben und gar nicht wissen wie weiterleben. Der Verlust eines Menschen hat nichts zu tun mit dem üblichen Mist des Lebens. Im Gegenteil entlarvt nicht zuletzt die Größe und Bedeutung eines solchen Verlusts die Mittelmäßigkeit und Kleinheit der alltäglichen Sorgen. Bei verlusterfahrenen Menschen könnte man also glauben, sie seien gegen den kleinen Mist des Lebens gefeit. Aber auch die Erfahrung der Größe eines echten Verlusts, auch das Schauen und Spüren der Weite des Himmels und der Unendlichkeit des Todes heilt uns Menschen nicht von der Anfälligkeit für den Mist des Lebens. Unzweifelhaft ist die Dimension der Erfahrung von Verlust und Abschied groß und bedeutsam. In den Augenblicken der Begegnung mit dem Tod und der Essenz der Trauer entwachsen wir momentlang der Gravitation. Aber dann holt sie uns wieder ein. Wir bleiben nicht in der Helligkeit der Erkenntnis. Wir müssen wieder zurück auf den Boden der Erde, dort wo die Gravitation des Lebens herrscht. Auch wenn ein Kind gestorben ist, wird man nicht zur Heiligen.

Oft reagieren die Verwundeten sogar besonders sensibel

Sie scheinen dünnhäutiger bezüglich der Nicklichkeiten des Lebens. Vieles kränkt sie, zurecht erleben sie manches als ungerecht. Sie ärgern sich und leiden, fühlen sich missverstanden und allein gelassen. Das Leben hat ihnen übel mitgespielt, so scheint es. In guten Momenten wissen sie, dass es sich nicht lohnt über Kleinigkeiten zu jammern. Sie wissen, dass andere Dinge weit mehr zählen. Sie schützen sich davor, allzu oft Mist ausgesetzt zu sein. Aber die wenigsten schaffen es dauerhaft, sich davon ganz zu verabschieden. Auch mir gelingt das nicht. Auch ich bin anfällig dafür, dass Mist mich aufregt und meine Laune berührt. Ich wünschte mir oft, es wäre anders, aber auch ich entkomme nicht dem Gravitationsfeld des Lebens. Es gehört zu den ureigensten menschlichen Erfahrungen, dass wir immer wieder hinunter müssen in die Niederungen unsinniger Sorgen. Klein und ängstlich identifizieren wir uns mit scheinbar wichtigen Dingen, die letztlich belanglos sind.


Da hilft nur eines: zu lernen loszulassen…

Aber wir können lernen, dass diese Erfahrung flüchtig ist, wir können uns auch mit Hilfe anderer Menschen oder wohltuender Aktivitäten wieder davon lösen. Die Berührung mit Mist ist unausweichlich, aber es ist unsere Chance uns davon jedesmal wieder zu befreien, um unsere Energie darauf zu verwenden, was uns echte Qualität bringt. Wir können trainieren, uns schneller von Mist zu verabschieden. Es ist an uns, uns davon zu lösen und nicht über Wochen und Monate an Kleinigkeiten bitter zu werden. Denn auch wenn wir monatelang den übelschmeckenden Mist gründlich durchgekaut haben gilt das immerwährende Naturgesetz: nach dem letzten Mist ist vor dem nächsten Mist.

Da hilft nur eines: zu lernen loszulassen…

David Althaus

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Wie VIVAS entstand

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