Geduld mit Gott
Paradoxie im Glauben
von Freya von Stülpnagel
Nach dem berührenden Gespräch von Julia und David mit dem Titel „Wo warst du Gott, als mein Kind starb“ hat mich folgender Satz aus einem Artikel in der SZ über den kürzlich verstorbenen Schweizer Autor Peter Bichsel „angesprungen“, den er äußerte: „Ich weiß, dass es keinen Gott gibt, aber ich glaube an ihn.“ Dieses Paradox hat bei mir Gedanken ausgelöst, die ich schon lange in mir bewege: Die Paradoxie drückt eine Wahrheit für mich aus, die über alles Sicht- und Denkbare hinausgeht. Ich finde sie genial, und sie kommt für mich dem Kern der Wahrheit nahe. Sie enthält einen scheinbaren Widerspruch im Sinne der formalen Logik, die jedoch eine wahre, höhere Wahrheit spiegelt.
So sagt z.B. Rose Ausländer in einem ihrer Werke: „Ich sage allen, bleibt mir vom Leibe, aber seid da. Ohne euch kann ich nicht leben.“
Kennen wir das nicht alle, nach dem Tod unserer geliebten Angehörigen?
In einer chassidischen Geschichte heißt es, dass die Schriftgelehrten meinten, sie müssten einen Prozess gegen Gott anstrengen, weil er so viel Elend in der Welt zulassen würde. Sie kamen nach der Gerichtsverhandlung zu dem Schluss und Urteil, dass Gott schuldig sei. Nach der Verhandlung ging der Rabbi weg und meinte: Kommt, lasst uns beten.
Dazu gehört auch der Satz von Nelly Sachs: „Die Auferstehungen deiner unsichtbaren Frühlinge sind in Tränen gebadet. Der Himmel übt an dir Zerbrechen.“
Die lebendige Auseinandersetzung mit dem Glauben, die Paradoxie, gibt mir die Zuversicht und die Kraft, trotz allem Ja zum Leben sagen zu können.