Eine Buchbesprechung

Rowohlt 2013

 

Vor 10 Jahren starb der Bestsellerautor Wolfgang Herrndorf. Er litt seit 2010 an einem unheilbaren Hirntumor, einem Glioblastom. 2013 tötete sich Herrndorf, als das Krankheitsgeschehen so weit vorangeschritten war, dass er kurz davor war, seine Selbststeuerungsfähigkeit restlos zu verlieren.

Fast 25 Jahre lang hatte der studierte Künstler (Malerei) und autodidaktische Schriftsteller ein weitgehend zurückgezogenes und beruflich ausgesprochen erfolgloses Leben an der Armutsgrenze geführt, bis die unheilbare Erkrankung diagnostiziert wurde. Während seiner Leidenszeit zeigte sich Herrndorf unter dem Druck der verrinnenden Lebenszeit ungewöhnlich produktiv. Sein Jugendroman und Bestseller „Tschick“ erschien 2010. In enormer Schaffenskraft hatte er die die Geschichte in nur wenigen Monaten nach der Diagnose des Hirntumors niedergeschrieben. Das Buch verkaufte sich bis heute 3,8 Mio. mal und wurde in 60 Sprachen übersetzt. 2011 erschien dann sein Agententhriller „Sand“, mit 480 Seiten, für den er 2012 den Preis der Frankfurter Buchmesse erhielt. Aber sein vielleicht spannendstes Werk ist ein später in Buchform veröffentlichter Blog von 2010-2013, „Arbeit und Struktur“, in dem er tagebuchähnlich sein Leben während und mit der Krankheit beschreibt.

Die existentielle Situation des kranken Autors ist dabei beinahe zynisch: lebte er jahrelang monetär unter einfachsten Bedingungen, so wurde er nun, den eigenen Tod vor Augen, innerhalb kürzester Zeit zum wohlhabenden Schriftsteller, dem all das Geld nichts mehr bedeutete. Herrndorf beschreibt in schonungsloser und uneitler Weise, was es für ihn bedeutet mit der tödlichen Diagnose weiterzuleben. Seine persönliche Antwort auf die Herausforderung ist zugleich Titel seines Blogs geworden: „Arbeit und Struktur“. Herrndorf sucht die Aufrechterhaltung seiner persönlichen Integrität vor allem darin, mit all der ihm verbliebenen Kraft literarisch zu arbeiten und sein Leben einer selbstbestimmten, fast rituell anmutenden Struktur zu unterwerfen. Immer wieder scheint er dem Verlust seiner kognitiven Fähigkeiten und Identität sehr nahe, erholt sich aber dank Operationen und Bestrahlungen so weit davon, dass er seine schriftstellerische Tätigkeit zunächst fortsetzen kann.

„Bilanz eines Jahres: Hirn OP, zweimal Klapse, Strahlen, Tremodal, 1 ¾ Romane, erster großer Urlaub, viele Freunde, viel geschwommen, wenig gelesen. Ein Jahr in der Hölle, aber auch ein tolles Jahr. …. Insgesamt vielleicht sogar ein bisschen glücklicher als früher, weil ich so lebe, wie ich immer hätte leben sollen.“ (S.196)

Es ist kein leichtes Buch, erst recht kein lustiges. Herrndorf glaubt nicht an eine postmortale Erlösung oder an ein wie auch immer geartetes Weiterleben nach dem Tod. Er lebt völlig im hier und jetzt und ist dabei schonungslos mit sich und seiner Umwelt. Er entscheidet sorgfältig, was in seinem Leben noch stärkend ist, und distanziert sich radikal von Dingen und Menschen, die er als Schwächung erlebt. Gleichzeitig erleben wir Herrndorf als Leser seines Tagesbuchs nah, authentisch, selbstkritisch, ohne Selbstmitleid oder Pathos. Er führt einen dauernden Kampf gegen neurologische Ausfälle, aber auch gegen niederschmetternde innere Stimmen, die ihn in Angst und Panik zu treiben drohen. Wir erleben, wie er immer mehr von dem einbüßt, was sein Leben früher ausgemacht hat. Der Autor erscheint uns dabei nahbar, wie einer, der sich uns anvertraut. Letztlich geht es um die Frage, was unserem Leben Qualität geben kann. Herrndorf sucht darauf täglich Antworten. Vielleicht enthält dieses Buch gerade deshalb so viele Anregungen, weil hier ein Mensch angesichts seines bevorstehenden Todes formuliert.

Der Suizid am Ende seines Lebens überrascht niemanden, auch nicht die Freunde, die früh eingeweiht waren. Bei den meisten Selbsttötungen werden die Suizidenten fernab körperlichen Leidens durch unfassbares psychisches Leid in den Tod getrieben. Beim todkranken Herrndorf dagegen scheint sein selbstgewähltes und lange vorbereitetes Sterben als letzter Ausdruck seines Anspruchs auf Selbstbestimmung.

Der Blog von Herrndorf ist als Buch erhältlich oder auch im Internet lesbar unter https://www.wolfgang-herrndorf.de

David Althaus

 

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