Blaue Unendlichkeit

 
 
 

Es warst du, der Zwölfjährige, der mal wieder mehr Mut hatte. Und den drängenden Wunsch, noch ein Stück, immer ein neues Stück weiterzugehen. Mit mir zu schwimmen. Wir wohnten in dem kleinen Haus direkt am Meer. Der Strand und der Sand waren unser Vorgarten, das Wasser immer aufs Neue einladend. Warm und ein Spiel für das Licht und die sanften Wellen.

Und doch zog es dich immer hinaus. Weiter, unsere Kräfte, unseren Abenteuergeist, unseren Mut fordernd. Wir schwammen Seite an Seite. Nicht schnell, mit keinem echten Ziel, nur mit einer Richtung. Weg vom Treiben am Ufer, vom nachmittäglichen Trubel, den immer leiser werdenden Menschen, dem nur noch ganz schwachen, freudigen Gekreisch deiner Brüder.

Jetzt ging es an den letzten schweren Segelyachten vorbei, die im schon tieferen Wasser träge an ihren Bojen hingen. Der Sand unter uns, der anfangs noch golden, dann immer grüner, nun dunkler und dann gar nicht mehr zu sehen war.

Wir schwimmen. Nebeneinander, Zug für Zug. Und auch wenn wir uns nicht ansehen oder beobachten: Wir wissen, dass wir da sind. Wir spüren gemeinsam, wie sanfte Strömungen an den Fußspitzen vorbeiziehen, wie das Wasser kühler und kühler wird. Und immer weiter.

Noch weiter, wirklich? Na klar, wir schwimmen. Einfach hinaus, einfach weiter. Das ist das Ziel, das ist für uns Selbstverständlichkeit, das ist unser Abenteuer, das ist so langsam auch ein wenig Angst. Und doch Glück und Zuversicht. Wieder einmal warst du es, der immer weiterwollte. Wieder einmal schwimmen wir viel weiter, weiter als der Rest der Familie.

Und dann kommt der Punkt, über den wir gar nicht sprechen müssen. Er ist einfach da, und er fühlt sich gut und groß an. Es ist der Moment, in dem zu spüren ist, dass das Wasser längst nicht mehr Strand, sondern Ozean ist. Es ist der Moment, in dem wir innehalten. Unter uns, vor uns: vielleicht schon Unendlichkeit. Ein großes Gefühl.

Und deswegen wirkt hier ganz selbstverständlich, was draußen, an Land, bei den anderen schon längst nicht mehr selbstverständlich war. Wir hören auf zu schwimmen, wir drehen uns zueinander, wir halten uns ganz fest, Vater und Sohn, du klammerst dich an mich und wärmst dich an mir. Es ist schon ein wenig kalt hier draußen. Doch Nähe tut gut, sie wärmt, wie flüssige Energie. Und sie braucht dann keine Worte.

Irgendwann drehen wir dann doch um, lösen uns, schwimmen zurück. Der Blick geht aufs Land, wird enger. Wir kommen an, erschöpft, auch ein wenig verändert. Es war Unendlichkeit. Sogar so etwas wie kosmische Verbundenheit.

Es kommen andere, weite Wege, die du ganz alleine gehst. Es schmerzt, dass ich dann nicht mehr dabei bin.

Bin ich nun allein?

Ich will sagen: Nein.

Ich denke gern an diesen Sommer. An unseren Tag im Meer zurück.

Rupert Sommer

 
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Macht der Frühling alles neu?

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„Woran ist er denn gestorben?“