„Woran ist er denn gestorben?“

 
 
 

Welcher Verlust ist der Schlimmste?

Wenn wir erfahren, dass ein Mensch gestorben ist, fragen wir sofort nach den Hintergründen. Was ist denn da passiert? Das ist die übliche Reaktion von uns, vor allem dann, wenn die Person jung gestorben ist. „War sie krank? War es ein Unfall?“. Diese Frage kommt uns sofort in den Sinn, als würde deren Beantwortung irgendeine Lösung bieten für eine dahinter liegende Frage: Wie kann es sein, dass der Tod so plötzlich ins Leben tritt? Wie kann es sein, dass jemand „vor der Zeit“ geht? Wir erhoffen eine Erklärung durch die Kenntnis der Todesursache und gelangen gerade damit schnell auf Irrwege. Als würde die Kategorisierung die Sache fassbarer machen. Als würde die Todesursache den Tod erklären. Manchmal hat man den Eindruck, es gebe dabei eine Rangreihe. Dann ist Krankheit nicht so schlimm wie Unfall. Bei der Krankheit wurde der Verstorbene schließlich irgendwann von seinem Leid durch den Tod erlöst. Bei einem Unfall stirbt dagegen unerwartet ein gesunder Mensch, der gerne noch weitergelebt hätte. Oder ist es nicht umgekehrt: bei einem Unfall darf jemand bis zuletzt ein unbeschwertes Leben führen, aber bei Krankheit muss oft viel Leid ertragen werden. Bei einem Suizid hat sich der Verstorbene angeblich selbst und freiwillig entschieden, sein Leben zu beenden (was fast nie stimmt!). Ist das am leichtesten? Ist der Tod mit 20 Jahren weniger tragisch als der Tod mit 10 Jahren? Im Grunde zeigen diese Gedanken, wie ratlos wir dem Tod gegenüberstehen.

 

Hätte man den Tod verhindern können?

 All das berührt die Frage nach dem WARUM, die uns alle immer bewegt, wenn jemand stirbt. Warum ist dieser Mensch gestorben? Und wer ist schuld daran? Wir suchen Erklärungen und Verantwortung. Als sei der Tod leichter zu verwinden, wenn wir wüssten, dass ein Statiker, die Haltbarkeit einer Brücke falsch eingeschätzt oder ein Arzt den Krebs zu spät erkannt hat. Bei vorzeitigem Tod sucht die Öffentlichkeit immer nach einem Schuldigen und wenn er benannt werden kann, scheint das zu beruhigen. Es suggeriert, so ein Tod könnte in Zukunft verhindert werden, wenn alle nur sorgfältig sind. Das ist wohl oft nur eine Illusion, aber es führt zu der Frage, die sich nahezu alle Trauernden stellen: Hätten wir den Tod des geliebten Menschen verhindern können. Allein schon die Fragestellung scheint in eine Sackgasse zu münden, denn der Mensch ist ja gestorben, also hat man es nicht verhindern können und der Konjunktiv eines „hätte“ macht niemanden lebendig. Die Frage suggeriert immer, einen Einfluss, den es in genau dieser damaligen Situation eben nicht gab. Am Ende widerfährt den einen Unheil und den anderen nicht. Ist das gerecht? Nein, aber es ist trotzdem wahr und unumkehrbar.

 

Wann ist ein Tod weniger schlimm?

Der Tod macht uns Angst und wir suchen eine Einordnung, wann ein Tod irgendwie akzeptabel ist (z.B., weil jemand schwer und unheilbar krank war) und wann ganz und gar ungerecht (z.B., weil jemand Opfer eines unverschuldeten Unfalls war). Die Leute bei VIVAS haben geliebte Menschen verloren. Viele sind durch Unfall oder Krankheit gestorben. Andere wurden Opfer einer Gewalttat und bei manchen wurde die Todesursache nie aufgeklärt. Einige sind auch durch Suizid gestorben. Gerade die Hinterbliebenen nach Suizid sehen sich mit enorm vielen Vorurteilen konfrontiert. Sie fragen sich selbst, ob und wo sie Schuld am Tod ihres Kindes oder Partners tragen. Oft sind sie vielen unausgesprochenen Mutmaßungen durch die Gesellschaft aber auch durch Freunde und Bekannte ausgesetzt („habt ihr euer Kind nicht geliebt?“). Viele von ihnen schützen sich deshalb davor, mit ihrem Los in der Öffentlichkeit zu stehen. Wer offen sagt, „mein Kind ist durch Suizid gestorben“, erntet oft Schweigen oder bizarre Nachfragen. „Ach, warum wollte dein Kind denn nicht mehr leben?“. Als sei es einfach fort gegangen. Dabei hätte auch dieses Kind unglaublich gerne gelebt, wenn es nicht von einer grausamen Depression getötet worden wäre.

Der lange Weg der Versöhnung

Meine Erfahrung zeigt mir, dass die Thematisierung der Todesursache bei der Begleitung eines trauernden Menschen fast immer relevant ist. Aber die Todesursache sagt wenig über die Größe der Trauer und den Trauerverlauf. So wichtig es sein kann, aus dem eigenen Schicksal Konsequenzen einzufordern (z.B. eine Fußgängerampel an einer Straße, wo ein Kind überfahren wurde), so geht es doch in Bezug auf die eigene Trauer langfristig immer um die Frage, wie es möglich wird, Versöhnung zu finden. Das ist oft ein langer und schwerer Weg und mitunter scheint er fast unzumutbar. Wie soll jemand Versöhnung finden, dessen Kind von einem Raser totgefahren wurde? 

Egal wie der Tod kommt, stellt er uns vor schwierige Aufgaben. Wir verstehen nicht, warum er gerade uns und unsere Familie heimsucht. Wir verstehen den Tod per se nicht. Wir erleben ihn oft als ungerecht und falsch. Aber wann ist ein Tod gerecht? Am Ende sterben wir alle. Auch ein alter Mensch erlebt keine Gerechtigkeit, wenn der geliebte Partner geht. Nach all den Jahren mit trauernden Menschen habe ich den Eindruck, der Tod entzieht sich diesen Einordnungen von „gerecht, ungerecht, richtig, falsch“ Der Tod ist einfach da und wenn er kommt, ist er nicht verhandelbar. Er ist erschreckend und verstörend, weil wir ihn nicht greifen können. Können wir uns mit ihm versöhnen? 

 

 Sage „ja“ zum Tod und du wirst leben.

Wenn wir Langzeitverläufe von Trauernden betrachten und nach den Kriterien suchen, die eine Prognose für eine positives Weiterleben ermöglichen, dann finden wir verschiedene Faktoren, die Einfluss haben, z.B. soziale und familiäre Eingebundenheit oder das Maß an Aktivität und Offenheit. Wichtigster Faktor scheint aber die Fähigkeit zu sein, den Tod des geliebten Menschen allmählich akzeptieren zu lernen. „Auch wenn ich nie verstehen werde, warum es dazu kommen musste, akzeptiere ich, dass du gegangen bist. Auch wenn ich dich noch immer schmerzlich vermisse, akzeptiere ich deinen Tod“. Gerade die, die es schaffen, den Verlust des geliebten Menschen trotz all der überdauernden Sehnsucht und dem nie endenden Schmerz zu akzeptieren, sind offensichtlich besser in der Lage, wieder ein aktives Leben mit Freude und Erfüllung zu finden. Es ist paradox: Die, die „ja“ zum Tod sagen können, scheinen besser ihr Potential zum Leben zu entfalten. Und diejenigen, die für immer mit dem Tod, sich selbst und der Welt hadern, scheinen Gefahr zu laufen, zu verkümmern und abzusterben. Sage „nein“ zum Tod und du wirst sterben. Sage „ja“ zum Tod und du wirst leben. VIVAS

David Althaus

 
Zurück
Zurück

Blaue Unendlichkeit

Weiter
Weiter

Mein Auto weint