Botschafter*innen der Aufklärung

 

Kürzlich bat mich ein psychotherapeutischer Kollege, ihn bei der Behandlung eines für ihn schwierigen Falles zu unterstützen. Es ging um eine Mitte 50-jährige Frau, die vor knapp zwei Jahren ihre 26-jährige Tochter durch Suizid verloren hatte. Er bat mich um meine Expertise und Beratung, wie denn in diesem Fall vorzugehen wäre. Normalerweise würde er mit depressiven Menschen oder anderen belasteten Patienten arbeiten und mit ihnen herausfinden, wo sich die Eltern überall falsch verhalten hätten. In diesem Falle wäre es ja schwierig, mit dieser Mutter über all deren Fehler zu sprechen, die letztendlich zum Suizid der Tochter beigetragen hätten.

Man könnte jetzt denken, das sei eine ungewöhnliche oder vielleicht sogar empörende, voreingenommene Sichtweise. Leider sieht die Realität anders aus. Auch unter den Fachleuten aus Psychotherapie und Psychiatrie wird noch immer oft die Meinung vertreten, dass Suizid zu einem erheblichen Teil auch auf einem Versagen der Eltern basiert.

Dies geschieht in weiten Teilen aus großer Unkenntnis und ist Teil eines bizarren Vorurteils. Wir haben schlicht kein gesichertes Wissen darüber, was genau die Pfade sind, die zu schwerer Depression und Suizid führen. Wer im Nachhinein sucht, wird immer manche Ungereimtheiten und Fallstricke finden. Das gilt für jede Familie und jeden Lebensweg. Das Erstaunliche ist ja die Tatsache, dass hunderttausende Menschen, die in der Kindheit wirklich Opfer schwerster Demütigung und Misshandlung wurden, nicht durch Suizid sterben.  Der Großteil der Menschen, deren Suizid ich therapeutisch mit den Angehörigen besprochen habe, hatte keine dramatischen oder gar traumatischen Lebenserfahrungen gemacht. Trotzdem erkrankten sie an einer schweren psychischen Störung, an der sie schließlich starben.

Ich ließ mir von dem Kollegen den Fall etwas genauer schildern und versuchte es dann mit einer freundlichen, aber auch unmissverständlichen Intervention:

 „Ich arbeite jetzt seit 20 Jahre mit Angehörigen nach Suizid. Das ist oft eine herausfordernde Therapie. Und wissen Sie, was mich nach ca. fünf Jahren am meisten erschreckt hat: ich musste ganz klar vor mir selbst bekennen, dass sich diese untröstlichen und hilfesuchenden Menschen in ihrer elterlichen Kompetenz und Liebe in nichts von mir unterschieden. Die sehr schmerzhafte, aber auch zwangsläufige Schlussfolgerung daraus war, dass auch jedes meiner Kinder durch Suizid sterben könnte. Diese Frau, die zu Ihnen kommt, verdient all Ihre Empathie, Anerkennung und Wertschätzung. Was sie auszuhalten hat, sprengt die Grenzen dessen, was Sie sich vorstellen können.“

Der Kollege war betroffen, aber auch enorm dankbar und erleichtert. Er verstand nun, dass es vor allem darum ging, den Hinterbliebenen achtsam und liebevoll zu begegnen. Nicht immer sind Lernfortschritte so schnell zu erzielen. Das Thema Suizid macht der Gesellschaft und selbst Fachleuten so viel Angst, dass wir immer Gefahr laufen, es vor dem Hintergrund der dünnen Faktenlage in lang bestehender Tradition zu simplifizieren: wenn man keine Erklärung hat, sind im Zweifelsfall die Eltern schuld, besonders natürlich die Mutter!

Aufklärung tut dringend Not. Gute Darstellungen, Interviews und Hintergrundberichte, die der Schwere und Größe des Themas gerecht werden, sind selten. Drei unserer VIVAS-Mitglieder haben jüngst an Fernsehdokumentationen mitgewirkt, die ein wichtiges Korrektiv in der Darstellung von „Suizidfamilien“ bilden. Ganz normale Eltern berichten, was ihnen widerfahren ist. Ich bin froh und dankbar über die Bereitschaft, sich mit der eigenen Geschichte der Öffentlichkeit zu zeigen. Es ist ein ermutigendes Zeichen an die zehntausenden Familien, denen Jahr für Jahr ein ähnliches Schicksal widerfährt. Dank an Julia Rittner-Kopp, Christian Kopp und Birgit Kröniger.

David Althaus


Links zu youtube:

Wenn das Kind sich das Leben nimmt: Wie geht es für die Familie weiter? | Frau TV | WDR

 
 
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