Fluss des Lebens
Jochen Heber spricht sehr persönlich zum Fluss des Lebens zur Segnung am 09.07.2023 und berührt mit seinen Worten viele Teilnehmer.
Sebastian liebte das Wasser, er liebte Bäche und alles, was darin lebt. Er war ein hervorragender Schwimmer, der Beste im weiten Bekanntenkreis!
Ruhig bewegt sich der Fluss des Lebens.
Ich denke: Alles wird besser seit einiger Zeit. So kann es bleiben, so stelle ich mir die Zukunft vor. Endlich ruhe ich in mir, endlich fühle ich mich gut. Es ist Januar 2015.
Ein furchtbares Ereignis – er ist tot, plötzlich und einfach und für immer tot!
Eine Parallelwelt tut sich auf, ein Alptraum, aus dem es kein Entkommen gibt, eine Parallelwelt, die nur extrem Trauernde nachempfinden können.
Ich stürze hinab. Eine Flut zieht mich nach unten. Alles verschwimmt, die Wirklichkeit verschwindet hinter einer Wand.
Ich bin eingeschlossen, eingeschlossen in furchtbar kaltem Eis. Eis, das mich wie in einem Alptraum umfängt.
Es ist nicht starr, es lässt mir Bewegung, aber ich kann mich nicht befreien, es nimmt mir die Luft.
Grauenvolle Kälte umfängt mich, aber ich ersticke nicht. Warum erstickt es mich nicht, dieses Grauen?
Ich schreie – niemand hört mich. Vielleicht ist der Schrei nur in mir.
War ich nicht vor kurzer Zeit noch frei im Fluss des Lebens? Ewigkeiten entfernt erscheint mir das. Und jetzt bin ich gefangen und nichts passiert mehr, nichts ist wichtig. Alles ist unwirklich, nur noch diese Trauer, diese unvorstellbare Trauer.
Nach unendlich langer Zeit – oder ist gar keine Zeit vergangen? – wird dieser Eispanzer etwas nachgiebiger. Ich versuche die ersten Schwimmbewegungen. Ich bewege mich, aber es tut weh. Jede Bewegung tut weh. Nach jeder Bewegung möchte ich aufhören mich zu bewegen – dieser Schmerz, diese Trauer, tiefste Trauer, anhaltende Trauer.
Aber ich weiß, ich muss wieder hineingelangen in diesen Fluss, sonst gehe ich unter, sonst bringt es mich um, sonst bringe ich mich um.
Wenigstens muss ich am Rand dahintreiben, immer noch weitab von denen, die aus der Mitte des Lebensstromes herüberwinken.
Diese Glücklichen, sie kennen diesen grauenvollen Schmerz nicht.
Sie können meine Trauer nicht nachempfinden, der Schmerz und die Trauer sind zu groß, um sie nachempfinden zu können. Dieser Schmerz ist überwältigend. Er hindert mich daran, in die Mitte des Stromes zu gelangen.
Mühsam bewege ich mich am Rand vorwärts, wenige Meter nur. Aber die Kraft nimmt zu, merkwürdig und unbegreiflich, obwohl die Trauer bleibt, obwohl sie nicht nachlässt.
Kann man sich an diese Trauer gewöhnen? Ja, ja, ja! Sie wird Bestandteil meines Lebens bleiben. Aber ich höre wieder das Plätschern vom Wasser des Lebensstromes, ein wunderbares Geräusch, fast wie Musik mit unendlich vielen Tönen.
Irgendwie bin ich wieder da, irgendwie lebe ich wieder - warum?
Irgendwie trägt das Wasser wieder – wunderbares Wasser.
Anders als zuvor, nicht so zuverlässig und gleichmäßig, manchmal zieht es mich nach unten, manchmal verschwinde ich in einem Strudel, manchmal spüre ich auch noch dieses furchtbare Eis – Traueranfälle, Begleiter für den Rest meines Lebens.
Aber ich schwimme wieder, das Leben kehrt zurück, anders als zuvor, denn es bleibt diese Wunde, diese furchtbare Wunde!
Trotzdem danke ich dir, Fluss des Lebens! Du wolltest mich nicht töten.
Warum hast Du ihn getötet?
Schwimmen lernen ohne dich neben mir, im Fluss des Lebens, muss ich wieder aus eigener Kraft – und dieses Schwimmen wird immer weh tun, aber eine Alternative gibt es nicht.
Jochen Heber