Folge 9: Das frühere Leben verabschieden
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Wenn ein zentraler Mensch deines Lebens verstorben ist, dann verabschiedest du nicht nur ihn, sondern im Grunde wichtige Teile deines bisherigen Lebens. Wenn dieser Mensch wirklich wichtig für dein Leben war, dann wirst du nach seinem Tod vieles verändern müssen, denn dieser Mensch ist jetzt nicht mehr Teil deines täglichen Lebens. Die Trauer um ihn begleitet dich anfangs jeden Tag, doch dieser Mensch wird nicht mehr zurückkommen und damit auch nicht dein früheres Leben.
Das klingt banal und logisch, ist aber in Wirklichkeit sehr herausfordernd und anstrengend. Denn so sehr du auch logisch begreifst, dass dein Mensch unwiderruflich gegangen ist, hoffst du doch lange Zeit, dass er zurückkehrt und es wieder werden könnte wie früher. Ein bisschen, als würdest du ganz lange die Luft anhalten und hoffen, dass am Ende der Spuk irgendwie vorbei ist. Fast alle halten anfangs die Luft an, in der Hoffnung auf Rettung, aber es hilft nicht, die neue Wirklichkeit zu verbannen: es ist wahr, dein Mensch ist gestorben und wird nie wieder zurückkommen.
Die meisten Menschen brauchen viele Monate, manche auch Jahre, um die Dimension des Verlusts zu begreifen. Das ist normal, denn immer wieder erfährst du neu, wo dein Leben nun nicht mehr so ist wie früher. Manche wehren sich sehr lange gegen die neue Realität und verweigern sich der Anerkennung des Verlusts. Das kann auf verschiedene Weise geschehen. Entweder indem sie sich ganz abwenden, ständig in die Verdrängung gehen und versuchen, das Leben weitgehend so weiterzuführen, wie bisher. Insbesondere in der Nachkriegszeit war das die Strategie von vielen Menschen. Angesichts der unfassbaren Größe ihres Leids waren sie einfach nicht in der Lage, sich ihrem Verlust zuzuwenden. Das Sprechen darüber war für viele ein Tabu und sie vergruben ihren Schmerz tief in sich.
Eine andere Form, sich der Anerkennung des Verlusts zu verweigern, besteht darin, das Leben nach dem Tod des geliebten Menschen zu „boykottieren“, und sich selbst jede Form positiver Gefühle oder gar Freude zu verbieten. Jede Rückkehr in die Welt der Lebenden wird vehement abgelehnt. „Solange du tot bist, werde ich nichts mehr genießen, ich werde nie wieder heiter sein, ich werde mich nie wieder auf das Morgen freuen.“ Viele Hinterbliebene erleben das nach dem Tod des geliebten Menschen so. Manche versuchen sich auch selbst zu bestrafen oder zu kasteien. „Wenn du kein Eis mehr essen kannst, werde auch ich nie wieder Eis essen…“ Du kennst vielleicht diese Gedanken und sie sind anfangs normal angesichts der Größe deines Verlusts. Aber diese Haltung signalisiert auch, dass du im Grunde noch nicht akzeptiert hast, dass der Mensch gestorben ist und dein altes Leben unwiederbringlich vorbei. Es liegt ein trotziger Protest darin und er ist nachvollziehbar. „Ich will dieses Leben so einfach nicht!“ Nur wer langfristig in dieser Verweigerung verharrt, droht bitter zu werden und zeitlebens unzufrieden zu bleiben.
Das frühere Leben zu verabschieden, heißt nicht, du müsstest deinen Beruf wechseln, dich von deinem Partner trennen oder dein Haus aufgeben. Aber es bedeutet doch, dass vieles auf den Prüfstand muss. Traue dich, Dinge zu verändern, Gewohnheiten in Frage zu stellen, Neues auszuprobieren. Nur in dieser Aktivität wirst du erfahren, wie dein Leben weiterhin Qualität besitzen kann. Natürlich werden dir immer wieder Tage der Untröstlichkeit begegnen, aber erlaube dir, dass wieder Gutes in deinem Leben Platz findet.
Nur wenn du den Verlust anerkennst, kann Neues wachsen