Folge 10: Wenn die Toten zu uns sprechen
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Ich erzählte davon, dass ich anfangs wenig Ahnung hatte, wie ich euch helfen könnte. Eines allerdings wurde schon bald deutlich. Vielen von euch tat es gut, von dem Menschen sprechen zu dürfen, den ihr verloren hattet. Viele von euch wollten ihre Gedanken an die geliebte Person mit mir teilen. Ich bitte euch oft, mir auch von guten und schönen Erinnerungen zu berichten und nicht nur vom schmerzlichen Ende. Ihr zeigt mir Fotos, manchmal sogar Videos und durch eure Geschichten lerne ich die Verstorbenen mit der Zeit immer deutlicher kennen.
Es ist für dich schmerzhaft und zugleich schön, vom gemeinsamen Leben zu erzählen, von den vielen Erinnerungen zu berichten, von dem Leben, das ihr miteinander geteilt habt. Aber du berichtest auch, wie der Tod zu euch kam und stellst dir die immer gleichen Fragen: Warum ist der geliebte Mensch gestorben? Warum konntest du es nicht verhindern? Warum trifft es ausgerechnet dich?
Vereinfacht gesagt könnte man meinen, du trägst den Verstorbenen zu mir. Und ich versuche mich dem zu öffnen. Wenn du viel mit mir teilst, tritt irgendwann eine erstaunliche Entwicklung ein: Ich beginne den von dir vermissten Menschen zu spüren. Nach einiger Zeit kommt es mir vor, als würde ich ihn lange kennen und ich fühle mich ihm nah. So nah, dass ich dir manchmal sogar Geschichten von ihm erzählen kann. Ich bin kein Esoteriker oder Spiritist, aber ich spüre ihn ganz deutlich in dem Maß, wie du ihn aus dir herausleuchten lässt. Ich bin die Satellitenschüssel, die all diese Energie auffängt, die aus dir strahlt. Und dieses Erleben spiegle ich dir zurück. Das sind dann besondere Momente von großer Intensität, das wissen wir beide.
Wenn du es zulässt, spüre ich den Verstorbenen durch dich. Und manchmal ist es so, als würden wir beide den vermissten Menschen sprechen hören. Auch das ist ein Element auf deinem langen Weg der Trauer: Dass du lernst, dass der Verstorbene immer in dir sein wird. Dass er aus dir herausstrahlt, wie ein lebendiger Organismus. So werden meine Begegnungen mit dir zu Begegnungen mit den Verstorbenen. Das ist meine Erfahrung: Deine Suche nach der verstorbenen Person führt dich in meine Praxis und tatsächlich findest du dort einen Teil von ihr. Du teilst deine Träume mit mir und berichtest mir, wie sie dich im Schlaf besucht hat. Du nutzt den besonderen Raum unserer Gespräche, die sie zum Vorschein bringen. Und wenn ich Teil dieser Begegnung sein darf, erfüllt mich das mit tiefer Dankbarkeit.
Leider lässt sich diese Innigkeit nicht festhalten. Auch eine tiefe und beglückende Erfahrung ändert nichts an dem schmerzhaften Vermissen und der Erfahrung der Unumkehrbarkeit. Ich habe oft erlebt, dass du scheinbar erfüllt, mutig und zuversichtlich die Praxis verlassen hast, um mir später bei unserem folgenden Treffen mitzuteilen, wie du schon kurze Zeit nach unserer Begegnung in tiefe Verzweiflung gefallen wärst, ohne dass es möglich gewesen wäre, sich dagegen zu wehren. Auch das ist eine Tatsache in der Trauer: es gibt oft keinen festen Boden. Jahrelang kann es dir geschehen, dass du ohne ersichtlichen Grund wieder umgeworfen wirst. Aber wenn du am Boden liegst, lernst du wieder aufzustehen. Anders geht es nicht. Immer häufiger machst du die Erfahrung, dass nur du selbst es kannst. Und wenn du vorsichtig in dich reinlauscht, kannst du vielleicht manchmal die Stimme des Verstorbenen hören, die dich ermutigen will:
Ich bin immer bei dir, auch wenn du mich nicht siehst.