Folge 13: Das Haus des Lebens
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Heute möchte ich dir ein Bild vorstellen, das dir helfen soll besser zu begreifen, was nach einem Verlust geschieht. Es ist die Metapher vom „Haus des Lebens“. Was ist dein Leben? Wie könnten wir es am besten beschreiben? Ich finde das nicht einfach, denn Menschen sind in ihrem Erleben und Verhalten so vielfältig, dass sich dafür nur schwer treffende Definitionen finden lassen. Zumal sich permanent alles in Veränderung befindet. Nichts bleibt über einen längeren Zeitraum gleich und immer wieder tun sich vor uns neue Welten auf. Ein Bild das mir hilft, mein eigenes Leben besser zu begreifen, ist das Bild vom Haus des Lebens.
Das Haus des Lebens hat viele Zimmer. Anfangs wirkt es noch überschaubar. Für das Neugeborene ist es ein großer Raum mit den Eltern und Geschwistern, aber mit der Zeit entstehen neue weitere Zimmer im Haus unserer Kindheit: im Kindergarten, in der Begegnung mit Freunden, im Sportverein, in der Schule, im eigenen Kinderzimmer. In jedem dieser Zimmer sind wir unterschiedlich. Der kleine David in der Schule verhielt sich oft ganz anders als der David zuhause in der Familie. Und der im Fußballverein war anders als der ängstliche, der nachts nicht schlafen konnte. Viele Räume scheinen miteinander verbunden, zwischen einigen ist aber auch eine geschlossene Tür und je nach Zimmer scheint ein anderer Aspekt unserer Identität, im Vordergrund zu stehen.
Im Laufe unseres Lebens kommen neue Zimmer und Räume hinzu wie Partnerschaft oder Beruf, manche gewinnen an Bedeutung, andere reduzieren sich mit der Zeit. Wenn wir Eltern werden, entsteht ein ganz neuer Raum im Haus unseres Lebens. Unsere Kinder nehmen in ihren ersten Jahren einen besonders wichtigen Platz in unserem Leben ein. Notgedrungen organisieren wir unser Leben um sie herum. Mit ihnen verbringen wir sehr viel Zeit und vor ihrem 12. Lebensjahr sind sie oft im Zentrum unseres Lebens. Anschließend verändert sich dieser Raum im Haus unseres Lebens wieder. Meist beginnen nun die Kinder, sich von uns zurückzuziehen und verbringen viel mehr Zeit allein oder mit Freunden. Mit 19 oder 20 ziehen sie dann aus und nun verbringen wir nur noch sporadisch Zeit mit ihnen. Dieses Zimmer im Haus unseres Lebens hat damit deutlich an Größe eingebüßt. Auch meine eignen Kinder sind größtenteils erwachsen und leben fern von mir. Ich liebe sie, aber mein gegenwärtiges Leben ist weitgehend abgekoppelt von Ihnen. Ich denke hin und wieder an sie, aber sie sind nicht mehr im Zentrum meines Lebens.
Wenn nun ein Kind stirbt, wandelt sich diese Situation dramatisch. Mit seinem Sterben rückt das Kind mehr denn je ins Zentrum unseres Erlebens. Sein Fehlen ist so laut, dass der Trauerraum zu enormer Größe anschwillt. Es ist, als hätte eine gewaltige Explosion die Strukturen des Hauses zerstört. Der Verlust ist so groß, dass es keine einzelnen abgegrenzten Zimmer mehr gibt. Alles wird nun vom Entsetzen über den Tod des geliebten Menschen bestimmt. Hast du vorher nur sporadisch an dein Kind gedacht, so beherrscht es nun dein Denken. Deine Sehnsucht nach ihm dominiert deine Gegenwart. Die anderen Räume im Haus deines Lebens scheinen dagegen zunächst sehr an Bedeutung zu verlieren. Deine Hobbys, deine Freundschaften, deine Karriere, deine anderen Kinder. Die unwiderrufliche Abwesenheit des geliebten Menschen transformiert die ganze Architektur im Haus deines Lebens. Anfangs gelingt es kaum, dem etwas entgegenzusetzen. Du willst es oft auch gar nicht anders. Die enorme mentale Präsenz des Verstorbenen in deiner Sehnsucht und deinem Schmerz verhindert sein endgültiges Verschwinden.
Erst allmählich und mit der Zeit lernst du wieder, das Haus deines Lebens aktiv zu gestalten. Dein verstorbener Mensch wird dabei immer Teil von dir bleiben. Aber das Haus deines Lebens soll nicht für immer ein einziger riesiger, mit Trauer gefüllter Raum bleiben. Um wieder neue Räume der Lebendigkeit im Haus deines Lebens bauen zu können, brauchst du einen guten Ort für den Verstorbenen, einen Ort in dir. Einen sorgsam gehüteten und heiligen Raum für ihn oder sie in deiner Seele. Es kann Jahre dauern, bist du ihn gefunden hast. Gleichzeitig erlaube dir, dass daneben viele weitere Zimmer entstehen dürfen, in denen der oder die Verstorbene nicht präsent ist und denen du dennoch Wichtigkeit beimisst. Verbringe nicht den Rest deines Lebens im Raum deines Schmerzes, sondern erlaube dir, immer wieder die Tür hinter dir zu schließen, um dich auch anderen Dingen im Leben widmen zu können. Je sicherer du den Verstorbenen in dir trägt, desto leichter wird dir das gelingen.
Höre nicht auf am Haus deines Lebens zu bauen.