Folge 14: Das unsichtbare Zeichen auf deiner Stirn
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Seit jeher hat sich Kunst mit dem Thema Trauer befasst. Werden trauernde Menschen in Bildern oder Skulpturen dargestellt, so gibt es einen gemeinsamen Nenner: Sie haben den Blick von der Welt abgewandt. Sie verhüllen ihr Antlitz, sie schauen zu Boden oder sie haben die Augen geschlossen. Der trauernde Mensch wirkt entrückt und entzieht sich den Blicken der anderen. Du kennst das Gefühl. Den Wunsch, Begegnungen aus dem Weg zu gehen, weil jeder Blickkontakt schiere Überforderung werden kann. Alles ist so wund und verletzbar, dass du dich schützen willst. Das ist ein häufiges Erleben in der akuten Trauer.
Und doch musst du mit der Welt wieder in Kontakt treten. Du lernst, eine Haltung zu finden, die es dir erlaubt, anderen zu begegnen. Viele Menschen, denen Unfassbares passiert ist, wirken auf den ersten Blick „normal“. Oder sie zeigen zumindest eine Fassade der Normalität. Du hast ein Gesicht gefunden, das es dir ermöglich, beim Bäcker Brot zu kaufen oder in die Arbeit zu gehen. Anfangs erscheint das fast unmöglich und viele hätten am liebsten weiterhin „ihr Antlitz“ verborgen. Aber das interessiert die Welt draußen nicht. Draußen dreht sich das Karussell des Lebens weiter, als sei nichts geschehen und du musst sehen, wie du damit zurechtkommst.
Deine Haltung wieder zu finden, ist deshalb so wichtig, weil sie dich davor schützt, vor anderen zusammenzubrechen. Sie hilft dir, nicht jeder Situation ausgeliefert zu sein, sie gibt dir soziale Handlungsfähigkeit zurück, auch wenn du sorgfältig auswählst, welche Kontakte du künftig lieber meidest. Deine Haltung wirkt auf Außenstehende, die dein Schicksal kennen, wie Kraft und Stärke, obwohl ihr Zweck hauptsächlich Schutz ist. Sie glauben irrtümlich, es gehe dir wieder viel besser, weil du trotz deines harten Schicksals freundlich und stabil wirkst. Sie sehen in dir jetzt einen kundigen Menschen für die Abgründe des Lebens. Eine Person, die es geschafft hat, das Unvorstellbare zu überleben: Den Tod eines geliebten Menschen. Und bei all dem haben sie auch nicht unrecht. Du selbst hättest dir früher kaum zugetraut, solch eine Situation zu überleben. Und nun bist du immer noch da.
All das hat zur Folge, dass sich immer wieder Menschen an dich wenden, wenn sie in eine schwierige Lebenssituation geraten sind. Obwohl du selbst bei weitem nicht den Tod deines innig geliebten Menschen verwunden hast, wirst du jetzt Adressat für die Unglücke anderer. So kann es passieren, dass ein Mensch, der dir gar nicht so nah steht, sich gerade an dich wendet, um unter Tränen eigenes Ungemach mitzuteilen. „Meine Mutter ist sehr krank“, „Mein Vater ist gestorben“, „Mein Mann hat mich und die Kinder verlassen“, „Unser Familienhund muss nächste Woche eingeschläfert werden“. Lauter belastende Dinge, aber doch nicht vergleichbar mit deinem Verlust. Trotzdem sagen sie es dir, als wärst ausgerechnet du die Person, die solch Kümmernis aushalten und verstehen kann. Es ist, als hättest du ein Zeichen auf deiner Stirn, das anderen Hilfe zusagt: „Ihr Traurigen auf der Welt, kommt her, mir dürft ihr alles erzählen.“
Du musst für dich prüfen, wie du damit umgehst. Tatsächlich kann es sein, dass du durch eigenes Unglück so geschliffen wurdest, dass in dir besonderes Verständnis entsteht für die Leiden anderer. Und ich habe viele Menschen erlebt, die geschult durch ihr eigenes Unglück enorme Fähigkeiten der Empathie und Unterstützung entwickeln konnten. Nicht zufällig lassen sich viele Betroffene selbst zu Trauerbegleiterinnen ausbilden. Es ist ihnen ein persönliches Anliegen, andere zu unterstützen. Wenn du hier für dich Lebenssinn und Erfüllung finden kannst, dann zögere nicht. Merkst du aber, dass die Wünsche und Ansprüche der anderen für dich Überforderung sind, dann scheue dich nicht, dass klar zu Ausdruck zu bringen.
Bestimme du über dich selbst.