Folge 12: Verlust durch Suizid
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Wenn ein geliebter Mensch stirbt, ist das immer schmerzhaft. Ein Tod, der die Angehörigen jedoch besonders erschüttert und fassungslos macht, ist der Suizid. Er unterscheidet sich insofern von anderen Todesarten, als er so gut wie immer geheim im Verborgenen stattfindet und der Sterbende seinen Tod selbst initiiert hat. Durch eigenes Handeln führt dabei ein Mensch bewusst sein Ende herbei. Für die Angehörigen kommt der Suizid fast immer überraschend, auch dann, wenn die verstorbene Person im Vorfeld unter erheblichen Belastungen litt. Man spricht dann gemeinhin von Selbstmord und verwendet damit einen Begriff, der mit Heimtücke und besonderer Niedertracht verbunden ist. Das spiegelt eine Jahrhunderte alte Tradition des Umgangs mit dem Phänomen Suizid in unserer Gesellschaft. Vor allem die Kirche wertete die Selbsttötung lange Zeit als schwerste Sünde und bestrafte den Verstorbenen nachträglich durch Exkommunikation. Seine sterblichen Überreste wurden ohne christliche Bestattung jenseits des Friedhofs verscharrt. Zum Glück haben sich diese Zeiten geändert, und heute beten Geistliche auch für die Seelen von Suizidopfern. Trotzdem gibt es kaum eine Todesursache, bei der die Angehörigen mit so vielen Vorurteilen zu kämpfen haben.
Wenn dein geliebter Mensch sich selbst getötet hat, weißt du, wovon ich spreche. Du selbst bist ja untröstlich über seinen Tod und immer wieder hast du dir die Frage gestellt, ob du seinen Tod hättest verhindern können. Die Frage der persönlichen Schuld spielt nach einem Suizid meist eine weit größere Rolle als bei anderen Todesarten. Denn der sterbende Mensch hat sich in seiner Selbsttötung von dir abgewandt, sich keine Unterstützung mehr erhofft und dich heimlich verlassen. Wie konnte es nur dazu kommen?
Meine Erfahrung aus 25 Jahren psychotherapeutischer Tätigkeit sagt mir, dass bei Suizid der Mensch in sehr vielen Fällen an einer akuten schweren Depression gestorben ist. Auch wenn er weitere psychische Probleme oder Erkrankungen hatte, wie eine Suchterkrankung oder eine Psychose, ist doch das Ausmaß der damit verbundenen Depression entscheidend für seine Selbsttötung. Eine schwere Depression ist eine extrem schmerzhafte und brutale Erfahrung, die kaum begreifbar ist. Ich rede nicht von „Krise“ oder „Herzschmerz“ oder „Melancholie“. Das alles kennt fast jeder von uns. Ich spreche von der mörderischen Krankheit Depression, die ihre Opfer mit schrecklicher Kraft von sich selbst entfremdet. Schwere Depression bedeutet, den Kontakt zu sich und der Welt zu verlieren, sich nicht mehr spüren zu können. Die Liebe zu sich selbst, zu den anderen, zum Leben zu verlieren. Sie bedeutet untröstbare Verzweiflung, vollständige Erschöpfung. Schwere Depression ist ein Gegner, der mit dem Willen nicht zu besiegen ist. Sie ist eine Bestie in deinem Rücken, ein Feind, den du nicht siehst, der dir die Luft des Lebens abdrückt und dir beständig einflüstert: „Du bist wertlos, verloren, kannst es nicht schaffen. Es ist völlig hoffnungslos. Für alle ist es besser, wenn du stirbst.“
Gleichzeitig ist die Depression oft unsichtbar. Sie steht dem Menschen nicht ins Gesicht geschrieben. Im Gegenteil unternehmen Betroffene oft viel, um sie vor der Mitwelt zu verbergen. Aber woher kommt eine Depression? Früher sagte man einfach, sie sei die Folge von Sünde und diffamierte damit die Betroffenen. Heute bieten Psychologie und Medizin verschiedene Erklärungsmuster an: Emotionale Entbehrungen in der Kindheit, systematische Denkfehler, das Zusammenspiel von Hormonen und Botenstoffen in unserem Nervensystem und schließlich genetische Ursachen. Obwohl wir manches erklären können, wissen wir bei näherer Betrachtung doch vieles nicht. Natürlich steigt die Verletzbarkeit, wenn die Kindheit viele Unwägbarkeiten aufwies. Aber eine Menge Menschen, die an einer Depression erkranken, hatten durchaus eine beschützte und liebevolle Kindheit. Und viele andere wiederum hatten schreckliche Kindheiten, erlebten Gewalt und Lieblosigkeit, und entwickeln trotzdem später keine Depression. Warum erwischt es die einen und die anderen nicht? Wenn wir ehrlich sind, müssen wir eingestehen: Wir wissen es einfach nicht.
Eine Depression ist nicht zwangsläufig das Ende. Viele überleben sie, auch mit Hilfe von Psychotherapie und Medikamenten. Viele auch deshalb, weil sie in der Depression so antriebslos und gelähmt sind, dass sie ihren Sterbewunsch nicht umsetzen können. Aber einige können wir nicht retten. Sie gehen zugrunde. Wie es in ihrem Inneren aussieht, wissen wir oft nicht. Erst dann, wenn sie ihrem Leben gewaltsam ein Ende setzen, ahnen wir, welch unfassbare Zerstörung sich ihrer bemächtigt hatte. Das Ausmaß der Depression ist von außen zumeist unsichtbar, wir können nicht abschätzen, ob ein Mensch einfach nur unglücklich ist oder seine Seele dabei ist abzusterben.
Ich sage das allen, die einen geliebten Menschen durch Suizid verloren haben. Depression lässt sich nicht einfach mit Liebe heilen. Wenn wir es schaffen, dass der depressive Mensch Schutz findet und sich uns anvertraut, wenn eine Therapie begonnen wird, steigt die Chance, dass die Depression vergeht. Oft quälend langsam, aber irgendwann hört die Depression auf. Auch das Ende der Depression entbehrt einer stringenten Logik. Es ist ja nicht so, dass das Leben besser geworden wäre, sondern plötzlich taucht der Mensch aus seiner depressiven Wolke wieder auf, fast ebenso rätselhaft, wie er vorher in der Depression versunken war. Auch nach vielen Jahren der Tätigkeit als Psychotherapeut ist das für mich immer wieder ein kleines Wunder.
Wenn dein geliebter Mensch durch Suizid gestorben ist, blieb bei dir dieses Wunder aus. Du hast vielleicht viele Anstrengungen unternommen, damit es ihm besser geht, aber es hat nicht gereicht. Er oder sie ist an den Folgen einer schweren Krankheit gestorben. So wie Menschen jedweden Alters durch einen Hirntumor sterben, führt auch die Depression in nicht wenigen Fällen zum Tod. In jeder Familie kann sich dies ereignen, es gibt keinen ultimativen Schutz. Das kann dich nicht trösten, und ich sehe darin auch keinerlei Gerechtigkeit. Denn auch dein Mensch hätte gerne ein zufriedenes Leben geführt. Dass es ihm nicht beschieden war, ist unendlich schmerzhaft.
Ich wünsche dir, dass du einen Weg findest, dich mit ihm oder ihr zu versöhnen. Dass du den Graben überwinden lernst, den die Depression zwischen Euch gezogen hat. Dieser Weg ist oft besonders beschwerlich, denn durch sein plötzliches Verschwinden bist du tief verletzt worden. Wirst du verzeihen können? Ich höre nicht auf, deinen geliebten Menschen in Schutz zu nehmen. Er ist nicht an dir gescheitert, er ist an der Depression zugrunde gegangen. Spüre in dich hinein. Auch im Falle eines Suizids ist es möglich, die überdauernde Verbindung zu erhalten.
Denn die Liebe bleibt.